In einigen großen Metropolen auf der Welt kommt es auf den Friedhöfen zu Platzprobleme. In diesem Zusammenhang wird immer wieder über die Zukunft von Erdbestattungen diskutiert. Die Feuer- und Seebestattung ist daher eine häufig gewählte Alternative. In einigen Teilen Zentralasiens ist es eine Tradition, die Verstorbenen den Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Wie pietätvoll ist diese Form der Bestattung?
Was für die einen bestialisch erscheint, ist für andere eine bewährte Tradition
Im deutschsprachigen und christlich geprägten Kulturkreis ist es üblich, die hinterbliebenen Reste eines geliebten Menschen wohl behütet unter die Erde zu bringen, sei es im Sarg oder einer Urne. Eine Bestattungsfeier findet meist in einer Trauerhalle, einer Kirche oder direkt auf dem Friedhof statt und hat in den Augen der meisten Deutschen gesittet, ruhig und würdevoll zu verlaufen. Es wird geschwiegen und geweint, es werden Gebete und Abschiedsworte gesprochen, es ertönt Musik begleitet von Mitleidsbekundungen und am Ende wird der Sarg oder die Urne sanft mit Blüten bestreut.
Würde jemand auf die Idee kommen, den Leichnam des Verstorbenen an Aasgeier zu verfüttern, würden wohl die meisten Menschen unverständlich die Nase rümpfen und den Ideengeber als bestialisch und pietätlos bezeichnen.
In weiten Teilen von Tibet, ist es jedoch ein übliches Ritual, die Körper der Verstorbenen auf einem Berggipfel zeremoniell an Geier zu verfüttern.
Die Himmelsbestattung in Tibet soll mit Freude erlebt werden
Was hierzulande als Himmelsbestattung bezeichnet wird, nennen die Tibeter „den Vögeln Almosen geben“ oder „vom Vogel verstreut“. Ein verstorbener wird in ein weißes Leinentuch gewickelt und noch für drei bis fünf Tage zu Hause aufbewahrt. In dieser Zeit liest ein Lama aus dem tibetanischen Totenbuch vor, um der verstorbenen Seele zu helfen, sich vom Körper zu lösen und den Weg ins Jenseits zu finden. Unterstützend wirkt die Familie mit auf die Seele des Verstorbenen ein, indem sie eine friedliche und harmonische Umgebung zu Hause schafft.
Am Tag der Bestattung wird der Leichnam in Begleitung weiterer Gebete auf einen Berggipfel, weit entfernt von Wohngebieten gebracht. Diese Umgebung ist meist eingezäunt, mit Gebetsfahnen markiert und wird „himmlischer Bestattungsplatz“ genannt.
Der Körper wird in eine sitzende Position, oft in Fötushaltung, gebracht und vom Bestatter, den Rogyapas, was Körperbrecher bedeutet, mit einem Messer in Kleinteile zerschnitten. Mit Weihrauch werden zuvor Geier angelockt, die anschließend binnen weniger Minuten das Fleisch von den Knochen trennen.
Die übrigen Knochenteile werden vom Zeremonienmeister mit einem Hammer zertrümmert, anschließend mit Gerstenmehl und Buttertee gemischt und den Vögeln zum Verzehr angeboten. Dabei ist es sehr wichtig, dass diese Zeremonie mit Freude ausgeführt wird, denn ungute Gedanken würden der Seele Schaden zufügen können.
Die Familienmitglieder bleiben bei dieser Zeremonie meist zu Hause und sollen die Seele mit Gebeten auf ihrer Reise unterstützen. Nach einigen Tagen werden weitere Gebete für die Wiedergeburt der Seele ausgesprochen.
Kulturelle und religiöse Hintergründe der Vogelbestattung
Die Geier werden unter den Tibetern als heilige Vögel verehrt und bringen die Überreste der Verstorbenen in das sogenannte „Bardo“, in das Reich zwischen Tod und Wiedergeburt. Das Ritual als solches symbolisiert die Befreiung der Seele vom physischen Körper. Es demonstriert die Vergänglichkeit des physischen Körpers und den Glauben an die Wiedergeburt.
Das was in unserem Kulturkreis als bestialisch, brutal und rau angesehen wird, basiert bei den Tibetern auf der Grundannahme, dass es eine unsterbliche Seele gibt, die beim sogenannten Tod ihre körperliche Hülle verlassen hat und diese nicht mehr benötigt. Durch das Füttern der Geier wird den Tieren Nahrung geboten und damit ihr Überleben unterstützt.
Geier greifen gewöhnlich keine lebenden Wesen an, sondern ernähren sich ausschließlich von Aas. Dieser Akt der Großzügigkeit ist ein Zeichen des Mitgefühls und der Verbundenheit aller Lebewesen. Durch die Zerstreuung des Körpers wird gezeigt, dass das Leben endlich ist und der Tod ein natürlicher Teil des Lebenszyklus ist.
Diese Bestattungsform hat einige praktische Hintergründe
Die sogenannten Himmelsbestattungen haben jedoch nicht nur kulturelle Hintergründe, sondern auch praktische. In den höher gelegenen Regionen gibt es meist eine sehr harte Steppenerde, die zudem nur wenige Zentimeter tief ist und unter der sich meist Felsschichten befinden. Dies macht die Erdbestattung nahezu unmöglich.
Hinzu kommt, dass die Tibeter oftmals oberhalb der Baumgrenzen leben und es daher an Holz für Feuerbestattungen mangelt. Da die verwesenden Leichname jedoch beigesetzt werden müssen, um den Gestank und eventuelle Krankheitserreger zu vermeiden, war diese Form der Bestattung wohl meist die einzige Möglichkeit.
Zudem ist diese Bestattungsform nicht nur sehr preiswert, sondern auch umweltfreundlich, da es keine unnatürlichen Rückstände gibt und die sterblichen Überreste so wieder in den biologischen Kreislauf der Natur zurückgeführt werden, auf eine platzsparende Art und Weise.
Die Himmelsbestattungen dürfen nicht fotografiert werden
Früher besuchten Touristen einige tibetische Himmelsbestattungsplätze und nahmen sogar die Zeremonie auf. Leider verstanden einige der Menschen, die dieses Material ansahen, nicht die kulturelle Bedeutung der Zeremonie und äußerten respektlose Kommentare. Die Regierung beschloss daher, alle Himmelsbestattungsstätten für Besucher zu schließen. Seit 2005 ist es keiner Organisation oder Einzelperson gestattet:
- die Szene der Bestattungsaktivität zu beobachten, zu fotografieren und aufzunehmen
- Fotos, Videos oder Aufzeichnungen, Nachdruck von Texten, Bildern und Berichten im Zusammenhang mit den Bestattungsaktivitäten über Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Radio, Film, Fernsehen und andere Medien zu veröffentlichen
- eine Himmelsbestattungsplattform als Touristenattraktion für Besucher zu nutzen
Mit diesen Maßnahmen möchte die Regierung die Wahrung der kulturellen Integrität und den Respekt vor religiösen Bräuchen sichern.
Fazit
Nicht nur im Tibet gibt es die sogenannten Himmelsbestattungen oder Vogelbestattungen, auch in der Mongolei praktiziert man teilweise ähnliche Rituale. Dort werden die Körper der Verstorbenen jedoch nicht zerteilt, sondern im Ganzen den Geiern zum Fraß überlassen. In Persien und Indien gibt es die Dachmas, die sogenannten „Türme der Stille“, auf welche die Verstorbenen gebracht werden. Das sind offene Türme ohne Dach, welche den Leichnam vor Raubtieren schützen und dafür sorgen, dass nur Vögel ihn erreichen können.
Für uns mag diese Bestattungsart rau und bestialisch erscheinen, doch in der Kultur der Tibeter ist sie etwas selbstverständliches. Für diese Kultur wäre es wahrscheinlich unverständlich, warum wir unsere Verstorbenen oftmals schon nach wenigen Stunden abholen lassen, anstatt uns ausgiebig von ihnen zu verabschieden.
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie unterschiedlich geprägt der Umgang mit dem Sterben und dem Tod ist und dass unsere Rituale und Umgangsformen der schwermütigen Trauer und Melancholie keineswegs eine Selbstverständlichkeit repräsentieren.